Film hören

Über die Wirkung von Musik und Ton im Film

1. Wie kommt der Ton zum Bild?
"Wenn das Publikum im Kino sitzt, nimmt man es mit in eine andere Welt. Wenn sie sich umdrehen und ihren Nachbarn fragen müssen: 'Was hat er gesagt?', dann hat man den Prozess unterbrochen. Jetzt sind sie zurück in ihrer Welt – sie sind nicht mehr in der Geschichte. Der Punkt ist, was auf der Leinwand dramaturgisch passiert, nicht was man mit einem Equalizer macht, oder ob es digital oder analog ist oder stereo oder mono. Nichts von dem ist wirklich wichtig. Wichtig ist: klingt es natürlich und funktioniert es dramaturgisch?" (Tom Fleischman, 1994)

Einblicke in den Produktionsprozess von Vertonung und Musik eines Films Interview von Birgit Goehlnich mit Stefan Soltau, Tondesigner der Filme LIEGEN LERNEN, DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI, KEINE LIEDER ÜBER LIEBE, DER FREIE WILLE, PHANTOMSCHMERZ und DIE KOMMENDEN TAGE.

Birgit Goehlnich: In welchen zeitlichen Phasen entstehen Ton und Musik im Zuge der Filmproduktion?

Stefan Soltau: Die Tonerstellung erfolgt in zwei Phasen: Die Aufnahme des Originaltons mit Hilfe von Angel- und Ansteckmikrofonen am Set, wo das Rohmaterial von Bild und Ton entsteht und die Postproduktion, in der aus dem Rohmaterial der Film geformt wird.

Wer ist in diese Aufgabenfelder involviert?

Zunächst der O-Tonmeister am Set. In der Postproduktion ist das Zusammenspiel von unterschiedlichen Toneditoren gefordert, deren Arbeitsfelder sich ergänzen und überschneiden. Je nach Film beteiligen sich ein O-Toneditor, Synchron- und Geräuscheditor, Sounddesigner und Musikeditor mit spezialisierten Computerprogrammen an der Tonerstellung. Am Schluss der Kette ist der Mischtonmeister.

Wie kann man sich den Arbeitsprozess in groben Zügen vorstellen?

In der Postproduktion wird das Rohmaterial zu Gunsten eines relativ ausgeglichenen Gesamtklangbildes weiterbearbeitet. Die am Set entstandenen Töne werden, wenn nötig, nachsynchronisiert, Störgeräusche entfernt, fehlerhafte Vokale ausgewechselt, Dialogsequenzen zu Gunsten des im Ton gelungensten Takes ausgewechselt. Der Synchroneditor kann über das sog. Taken mundgerechte Stücke des Dialogs heraustrennen, als Text festhalten und im Computer so präparieren, dass dieser Teil als Schleife im Synchronstudio vorliegt. Der Schauspieler kann seinen Text wiederholen. Ausdruck und Lippensynchronität müssen hier wieder zusammenpassen.

Welche Bedeutung kommt dem Dialog im Vergleich zur Ton- und Musikgestaltung zu?

Der Dialog ist das wichtigste Element, Soundeffekte und Atmosphären sind Erweiterungen des Films. Auch wenn dies von Film zu Film unterschiedlich gewichtet ist.

Wie entstehen Filmgeräusche und welche Rolle spielen sie für die Wirkung des gesamten Film?

Im Gegensatz zum O-Tonmeister, der Nebengeräusche am Set verhindern muss, fügt der Geräuschemacher der Filmhandlung aus naturalistischen oder dramaturgischen Gründen Geräusche zu. Hier ist es das Ziel, dem Film durch gestalterische Eingriffe eine unterstützende Geräuschebene zu verleihen. Die Geräusche müssen nicht immer eine exakte Kopie des originalen Objektes sein. Durch Geräusche werden Dinge und Menschen charakterisiert. So gewinnt der Film an Lebendigkeit.

Beim Sounddesigner laufen die einzelnen Arbeitsschritte zur Filmvertonung zusammen. Wie sieht sein Tätigkeitsfeld konkret aus?

Der Sounddesigner sorgt für Verengung oder Erweiterung des realen akustischen Raumes, in der Absicht, den Zuschauer psychologisch zu führen. Die Intention des Films steht im Mittelpunkt. Durch die Klänge und die Musik erhält der Film seine akustische Stimmung.

Auf welches Material kann ein Sounddesigner zurückgreifen. Oder: Woher kommen all die Klänge und Töne?

Das Ursprungsmaterial des Sounddesigners entstammt verschiedenen Quellen. Der Sounddesigner wählt die für einen Film passenden Töne aus einem Fundus gekaufter CDs und individuell erstellten und archivierten Klangquellen. Und abgesehen von sog. Mehrteilern wie KRIEG DER STERNE, wo der Sound für Wiedererkennung steht und als Markenzeichen gilt, wird ein und derselbe Sound nicht in verschiedenen Filmen völlig identisch eingesetzt.

Wie fügt sich die Auswahl und der Einsatz von Musik in diesen Produktionsprozess?

Diese Aufgabe wird zumeist vom Sounddesigner mit ausgeführt. In dieser Phase der Filmherstellung zeigt sich ein gravierender Unterschied zwischen den USA und Deutschland. Hierzulande beschränkt sich die Aufgabe meist darauf, die vom Komponisten angelieferten Materialien einzuspielen, die Einsätze zu platzieren, ohne den Takt und die Struktur der Musik zu zerstören. In den USA arbeitet der Musikeditor schon während der Bildschnittphase mit dem Regisseur, dem Komponisten, dem Schnittmeister an etwaigen Musikrichtungen, -einsätzen und -instrumentierungen. Grundsätzlich wird zwischen szenischer oder Quellmusik und nicht szenischer Musik unterschieden. Szenische Musik ist diejenige, die durch die Filmhandlung animiert ist, wie z.B. ein spielendes Radio, Straßenlärm ein Konzert, etc. Nicht szenische Musik ist die Musik, die dramaturgisch in der sog. zweiten auditiven Phase liegt und die Stimmung des Films beeinflusst.

Wann kann man sagen, aus den Materialen Bild und Ton ist der fertige Film entstanden?

Das ist der Prozess der Filmmischung, an dem alles zusammengeführt und zu einem Ganzen verbunden wird. Es entsteht die Kombination der Töne zu einem, ganzheitlichen Soundtrack. Die Erfahrung, ob ein Film dramaturgisch funktioniert und natürlich klingt, ist erst hier möglich. Musik, Atmosphären und Effekte müssen in Rhythmus und Tempo so variiert sein, dass sie beim Zuschauer Interesse wecken und die Spannung halten. Dann kann er ins Kino, erst dann ist der Film leinwandtauglich.

2 .Welche Funktionen hat die Filmmusik?
"Filmmusik muss sich sofort und unmissverständlich zu erkennen geben, weil sie nur einmal gehört wird von einem Publikum, das obendrein unvorbereitet ist und nicht ins Kino kommt, um Musik zu hören". (Josef Kloppenburg, 2000)

Musik im Film ist immer funktional, da sie Visuelles klanglich unterstützt, um die Wahrnehmung der Zuschauer zu beeinflussen. Sie kann die Filmhandlung unterstreichen und unterstützen, sie kann Stimmungen und Emotionen erzeugen und ein den Szenen entgegenkommendes Raumgefühl vermitteln. Josef Kloppenburg unterteilt bezogen auf die Bildebene, die Filmhandlung und die Filmsyntax die verschiedenen Funktionen der Filmmusik in syntaktische, expressive und dramaturgische Funktionen.

Die syntaktische Funktion ermöglicht dem Zuschauer ein leichteres strukturelles Verstehen des Gesehenen. Einzelne Filmsequenzen werden akustisch miteinander verbunden oder voneinander abgegrenzt, Einstellungswechsel verdeutlicht und angekündigt. Die syntaktische Funktion bezieht sich somit auf die Erzählstruktur des Films: Sie gliedert den Film oder eine Szene, trennt Real- von Traumsequenzen, rafft oder verlangsamt die Zeit durch Rückblenden, Zeitlupen oder Zeitraffer. Der Rhythmus ist immer vertikal ausgerichtet, verweist aufs Aktuelle, wird eingesetzt, um Gewalt und Action zu untermalen. Im Gegensatz hierzu unterstreicht die horizontal wirkende Melodie den Zeitverlauf des filmischen Geschehens.

Die expressive Funktion der Filmmusik verstärkt die Wahrnehmung der Zuschauer, indem sie die im Film gezeigten Gefühle unterstützt und hervorhebt. Sie ist dafür zuständig, das Filmerleben einzelner Szenen noch romantischer, trauriger oder Angst erregender wirken zu lassen. Durch die Filmmusik findet eine „Intensivierung des Situationserlebens“ statt. Diese Funktion der Filmmusik findet sich besonders in den Kompositionstechniken "Underscoring" und "Mood-Technik" wieder.

Die dramaturgische Funktion der Filmmusik lässt sich sehr gut am Beispiel der "Motiv-Technik" erklären. Sie charakterisiert Protagonisten, interpretiert sie und beschreibt ihre Gefühlslagen und zeigt auch ihre Verbindung zu anderen Figuren auf. Filmmusik kann Figuren ankündigen, die visuell gar nicht zu sehen sind. Der Zuschauer wird von der Filmmusik geleitet, er kann auf Kommendes vorbereitet werden und auf Zurückliegendes verwiesen werden. Über die Musik gewinnt der Zuschauer eine Einfühlung in die Filmgeschichte, Identifikation mit den Protagonisten und eine für die Story und das Genre adäquate Entlassung aus dem Film.

Ergänzend zu den von Kloppenburg beschriebenen Funktionen der Filmmusik kann heute beobachtet werden, dass Filmmusik auch eine Marketingfunktion hat, da sie nach Kinoauswertung auf Tonträgern im Handel erscheint. Film und Musik werben häufig füreinander. Um die Aufmerksamkeit zu steigern, wird mit "Main-Titles" gearbeitet, wie z.B. Elton Johns Song "Can you feel the love tonight" aus KÖNIG DER LÖWEN und Celine Dions "My heart will go on" aus dem Film TITANIC. Ganz aktuell startet 2006 der Animationsfilm COCO-DER NEUGIERIGE AFFE, der als Familienfilm mit der Musik von Jack Johnson aufwartet. Seine Songs vermitteln der filmischen Abenteuergeschichte um den kleinen Affen die aufregende, lässige, verspielte Atmosphäre. Darüber hinaus promoten sogenannte "Starfilme" bekannte Pop- und Rockstars, in denen oft dünne filmische Plots um die musikalische Präsentation der Stars im Film gestrickt werden. Der Einfluss von Musiktiteln auf Kino ist am Beispiel von TOP GUN abzulesen. Der Eingangshit "Danger Zone" von Kenny Loggins vermittelt dem jugendlichen Zuschauer, dass es im Film um starke Helden, Schnelligkeit, Gefahr, Spannung, Technik und ihre Beherrschung geht. Grundsätzlich lässt sich an diesem Phänomen ablesen, dass Kinder und Jugendliche immer stärker zur Zielgruppe insbesondere Hollywoods werden, was sich mit dem Einsatz von kinder- und jugendaffiner Musik in Filmen belegen lässt.

3. Wie gestalten sich die Kompositionstechniken der Filmmusik?
"Filmmusik ist funktionale Musik. Sie entsteht nicht um ihrer selbst willen, sondern steht im Dienst an einem anderen, grundsätzlich musikfremden Medium". (Hansjörg Pauli, 1981)

Im Zuge der Weiterentwicklung vom Stumm- zum Tonfilm wird der Einsatz der Filmmusik neben Bild und Dialog zum wichtigsten filmischen Mittel, um Filmen Ausdruck und Tiefe zu verleihen. Noch weiter verstärkt hat sich ihre Bedeutung mit der Entstehung von Fernsehformaten aller Gattungen, die wesentlich durch die musikalische Gestaltung geprägt sind. Insbesondere Fernsehserien gewinnen durch eine einheitliche Titelmusik Wiedererkennung. Die Rolle, die der Filmmusik für die eigentliche Wahrnehmung, Rezeption und das Verstehen von Filmen zukommt, wird erst in jüngster Zeit von der Filmwissenschaft in den Blick genommen.
Besonders markant lässt sich die Funktion der Musik bei den Genres Werbung und Musikclip illustrieren, da im engen zeitlichen Rahmen eine klare Botschaft mit größtmöglicher Beeinflussung erreicht werden soll. Im Zuge der Verdichtung von Information und Sinnlichkeit wird die Musik zum wichtigsten Transporteur von Handlung, Zitat und Filmheld.

Das "Underscoring" untermalt Bilder, Figuren und deren Bewegungen mit Tönen, Klängen und Musik, um eine Gefühle verstärkende Wirkung zu erzielen. Ihr Metier ist das sog. "Mickey-Mousing" das für eine übertriebene Analogie zwischen Bildinhalt und Vertonung/Musik steht. So finden sich Goofy`s Bewegungen, tollpatschig stolpernd, hinfallend in der Musik und im Ton als Synchronpunkte wieder. Das visuelle Fallen wird durch einen akustischen Knall verstärkt, d.h. Bewegungsverdopplung oder akustische Verstärkung. Das Underscoring verwendet instrumentale und stilistische Klischees, die die Zuschauer im Laufe ihrer Mediensozialisation wahrnehmen, erkennen und verinnerlichen. Schon kleine Kinder lernen im Zuge ihrer Seherfahrung das "Mickey-Mousing" kennen und erwarten in Disney-Produktionen diese übertrieben inszenierte Analogie zwischen Bild und Ton. Das Wiedererkennen dieser Kompositionstechnik steigert den Filmgenuss und macht den Kleinen zu jeder Zeit deutlich, in was für einem Film sie sitzen. Auch die „Kevin allein zu Haus“-Reihe trägt die Handschrift dieser Technik, wodurch den Vorschulkindern immer bewusst bleibt, in dieser Art Film passiert trotz laut vertonter Action niemandem etwas. Die „Mood-Technik“ erzeugt Atmosphären, indem die Musik mit expressivem Stimmungsgehalt einzelne Szenen und den gesamten Film gestaltet. Der Zuschauer wird durch die Musik affirmativ auf das Bild eingestimmt, um dieses besser analysieren zu können.

Die "Mood-Technik" findet sich in nahezu jedem Film, da sie sich perfekt eignet, den Szeneninhalt musikalisch zu verdeutlichen. Auch hier werden Klischees zur Abbildung von Stimmungen verwandt. "Dur", helle Instrumente wie Geige und Piano, wird beispielsweise zur Darstellung von Ausgelassenheit und Freude, Liebe und Romantik, gewählt, "Moll", langsame tiefe Instrumente, eignet sich, um der Szene Ernsthaftigkeit, Trauerstimmung und ein Gefühl von Verlust und Abschied zu verleihen. Ein disharmonischer Bass steht für eine ängstigende Wirkung, raue tiefe Töne verbreiten beim Zuschauer eine melancholische Stimmung. Diese Kompositionstechnik nimmt die jüngsten Zuschauer an die Hand und geleitet sie sicher durch Filme, wie z.B. DER KLEINE EISBÄR, eine durch ständigen Wechsel von Spannung und Entspannung gestaltete Abenteuergeschichte. Musikalisch werden die Kinder auf dramaturgisch wichtige Szenen vorbereitet und zum Ende des Films aus der Spannung in ein inhaltliches und musikalisches Happy End entlassen.

Die "Motiv-Technik" ordnet den Protagonisten leicht erkennbare musikalische Motive zu, um sie für den Zuschauer in nachvollziehbarer Weise zu charakterisieren. Auch wenn sich die Charaktereigenschaften während des Films verändern oder weiterentwickeln, werden sie vom Rezipienten problemlos dem jeweiligen Protagonisten zuerkannt. Die "Motiv-Technik" übernimmt die dramaturgische Aufgabe, Rückverweise zu geben oder Antizipation deutlich zu machen, unterstützt somit die Wahrnehmung und das Verständnis auf Seiten der Zuschauer. Auch die "Motiv-Technik" arbeitet mit Klischees, die für weibliche und männliche Figuren im Film gelten. Das männliche Motiv umfasst Eigenschaften wie herb, markant, aktiv, nach Veränderung strebend, schöpferisch aufbauend aber auch auflösend zerstörerisch. Geradezu konträr und ausgleichend zum männlichen Motiv beschreibt das Weibliche die Charaktereigenschaften des Besänftigens, Erhaltens und Ausgleichens. Schon mit den ersten Seherfahrungen, insbesondere von Märchen- und Zeichentrickfilmen lernen kleine Kinder diese stereotyp gezeichneten Figuren kennen. So werden z.B. im Film LILO & STITCH (USA 2001) in den ersten 10 Filmminuten die Hauptfiguren Stitch, montrös, unbändig, vital und zerstörerisch und im Gegensatz dazu Lilo, weich, tollpatschig, niedlich und ausgleichend musikalisch in ihren unterschiedlichen Welten vorgestellt. Stitch´s Herkunft ist gekennzeichnet durch eine kalte, bedrohliche Weltraum-Atmosphäre (typisches Klangbild für das Science Fiction-Genre), und im Gegensatz dazu steht Lilos Welt für fröhliches, ausgelassenes, aktives und sonniges Inselleben, das durch rhythmische Bongoklänge musikalisch erlebbar wird. Diese Charakterisierung steuert die kindlichen Zuschauer sicher durch die folgende turbulente Abenteuergeschichte, macht die Figuren über die Musik erkenn- und zuordenbar, erklärt auch Veränderungen und Entwicklungen z.B. von Stitch über den Sound. Die bildlichen und musikalischen Erkennungsmerkmale von bösen und guten Figuren geben den kindlichen Zuschauern Sicherheit, wobei Kinder mit zunehmendem Alter sich verändernde und sich entwickelnde Filmhelden dem schlichten Klischee vorziehen.

4. Wie wirkt Filmmusik auf die Zuschauer?
"Musik erlaubt das Erleben von Scheingefühlen, denn die empfundene Trauer oder Freude hat keinen realen Anlass und die gefühlte Angst oder Bedrohung keine realen Konsequenzen" (Claudia Bullerjahn, 2001)

Es lässt sich auf eine Vielzahl von Studien über die Wirkung von Filmmusik verweisen, die allesamt zu dem Ergebnis kommen, dass Musikhören mit körperlichen Reaktionen verknüpft ist. An Testpersonen unterschiedlicher Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass der musikalische Rhythmus Puls und Atmung stimuliert, dass tiefe Töne und extreme Lautstärke Angst und Unbehagen verursachen und eine Lautstärke über 65 Phon für vegetative Folgen wie Schweiß, Zittern und Angst verantwortlich ist.

Die musikalische Gestaltung wird vom Filmemacher als ein Angebot an den Rezipienten verstanden, sich über die Musik in eine bestimmte Stimmung befördern zu lassen. Ihre Wirkkraft hängt davon an, inwieweit sich der Zuschauer auf die Emotionen, die keinen realen Hintergrund haben, einlässt. Je größer die affektive Übereinstimmung zwischen Musik und Bild ist, umso stärker ist die emotionale Wirkung.

Filmmusik initiiert die "innerfilmische Assoziationsbildung", indem wichtige Bildaussagen oder Textpassagen mit einer bestimmten Musik emotional etikettiert werden. Durch den Einsatz derselben Musik an anderer Stelle des Films ist es dem Zuschauer möglich, auf das vorher im Film Erlebte zurückzugreifen. Auch den während des Films eingeführten unterschiedlichen Figuren wird eine sie charakterisierende Musik zugeteilt. Diese Assoziationsbildung geht auf das so genannte "affektive Gedächtnis" zurück.

Der Einsatz von schlichter Titelmusik und einfacher Kennmelodie bewirken beim Zuschauer eine direkte musikalische Erinnerung, die positive oder negative Gefühle hervorruft. Das vorhandene Wissen wird aktualisiert und steuert über die bereits gemachten Erfahrungen den emotionalen Zugang zum musikalisch angekündigten Film. Vor allem greifen die TV-Serien mit ihrer sofort erkennbaren Titelmusik auf das Prinzip der Periodizität zurück.

Die Filmmusik entscheidet ganz wesentlich über die Aufmerksamkeit des Zuschauers, da sie Szenen durch bestimmte Klänge oder Instrumente markiert, begleitet und ihr Ende ankündigt. Auch hier ist die Aufmerksamkeit und Erinnerungsleistung besonders hoch, wenn Ton und Bild kongruent sind. Untersuchungen mit Testpersonen konnten dies belegen, da sie beim kombinierten Sehen und Hören etwa 70% Erinnerungsleistung bringen. Alleiniges Hören bringt 20%, alleinige optische Reize 30%.

Zusammenfassend spielt die Filmmusik bezüglich der Rezeption eine zentrale Rolle. Sie unterstreicht die Bilder, kann sie steuern oder auch einfach nur begleiten. Sie ist verantwortlich für unterschiedliche Atmosphären und betont gewisse Stimmungen. Sie geleitet den Zuschauer durch die Szenen zum Höhepunkt und dem Ende des Films entgegen. Für die Anbindung an Protagonisten und eine Identifikation mit ihnen ist die Musik zuständig. Insbesondere die affektive Kongruenz von Bild und Ton erzielt beim Zuschauer eine tiefe und nachhaltige Wirkung.

5. Welche Rolle spielt Musik und Vertonung im Kontext der Wirkungsdiskussion und Alterskennzeichnung von Filmen für Kinder?
"Die Musik unterstreicht den Rhythmus dieses Abenteuerfilms, sie beruhigt, erregt und ängstigt, kündigt Spannung und Bedrohung an und sorgt auch für lustige Stimmungen. Die Vertonung der Kämpfe sorgte im Ausschuss für eine ausführliche Wirkungsdiskussion. Sind 6-Jährige in der Lage, die schnell geschnittenen und laut vertonten Kämpfe, konkret das Aufeinandertreffen der Waffen, ohne nachhaltige Ängstigung zu verarbeiten?“ (Auszug aus dem Jugendentscheid zu DIE CHRONIKEN VON NARNIA, USA 2005)

Die Ausschüsse der FSK beurteilen die Filmwirkung und formulieren Wirkungsrisiken, die vom Film insgesamt oder von einzelnen Szenen ausgehen. Die Diskussion umfasst die Filminhalte und ihre gestalterische Umsetzung: genretypische Inszenierungsstile, Schnittfolgen, Spannungsaufbau, Farb- und Formsetzung, Licht, Vertonung und Musik. Das Erarbeitete wird in Bezug gesetzt zu entwicklungspsychologischen und mediensoziologischen Erkenntnissen. Die Kinderfilmfreigaben „ohne Altersbeschränkung“ und "freigegeben ab 6 Jahren" sind die zentrale Herausforderung, da über Kinder dieses Alters kaum Erkenntnisse aus der Rezeptions- und Wirkungsforschung vorliegen. Bekanntermaßen besuchen 3-jährige Kinder das Kino und sind einer Riesenleinwand und Dolby-Surround-Ton ausgesetzt. Bereits gemachte Seherfahrung am Fernseher kann hier kaum Hilfestellung bieten. Für die Filmwirtschaft spielt diese Altersgruppe eine immer stärker werdende Rolle, was sich an den Zuschauerzahlen ablesen lässt. LILO & STITCH (USA 2001) erreicht 2 Mio Zuschauer, DER KLEINE EISBÄR (D 2001) 2,5 Mio, MONSTER AG (USA 2000) 3,2 Mio, MADAGASCAR (USA 2004) 6,6 Mio, SHREK 2 (USA 2003) 5,3 Mio, DER SCHATZPLANET (USA 2002) 6 und HARRY POTTER UND DER STEIN DER WEISEN (USA 2000) 12 Mio. Zuschauer. Die Bedeutung dieser Freigaben spiegelt sich auch im Interesse der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und den Medien wider. Diese Kinostarts werden häufig begleitet von Anfragen und Interviews seitens Fernsehen, Radio und Zeitung über die Jugendschutzgründe, die zu der Altersfreigabe führten.

Im Folgenden werden der Stellenwert und die Beurteilungskriterien von Musik und Ton im Kontext der Ausschussdiskussionen um Kinderfreigaben skizziert. Das Ausgeführte basiert auf den Filmbeurteilungen der FSK-Ausschüsse und den die Wirkungsvermutungen darlegenden Jugendentscheiden. Wesentliche Erkenntnisse konnten im Rahmen des in den Jahren 2002 bis 2004 durchgeführten Medienprojektes "Medienkompetenz und Jugendschutz I und II – Wie wirken Kinofilme auf Kinder?"gewonnen werden. An diesem Filmprojekt waren etwa 1.000 Mädchen und Jungen aus Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg zwischen 4 und 14 Jahren beteiligt. (Siehe auch Publikationen, Anm. d. Red.) 

Musik und Ton im Zuge der Filmbeurteilung und Altersfreigabe – eine Bestandsaufnahme:
- Im Kontext der Beurteilung und Altersfreigabe von Filmen spielt die Wirkung von Ton und Musik eine zentrale Rolle. Grundsätzlich kann Musik und/oder Ton für eine höhere oder niedrigere Altersfreigabe verantwortlich sein. So steht die musikalische "Leitungs- und Steuerungsfunktion" in HARRY POTTER UND DER STEIN DER WEISEN für eine Unterstützung von 6-Jährigen, das Gesehene problemlos zu verarbeiten, da sie den Wechsel von An- und Entspannung und die Charakterisierung der Protagonisten vorzüglich gestaltet. Kinder werden auf spannende Szenen vorbereitet, da die Musik sie vorsichtig ankündigt und auch wieder aus den Spannungshöhepunkten hinausbegleitet. Musik und Ton sorgt im Anschluss für Beruhigung und Erholung. Im Gegensatz hierzu bewirkt die effektvolle Ton- und Musikschiene in DER SCHATZPLANET (USA 2002) Übererregung bei unter 6-Jährigen, was dazu führte, dass der Abenteuerfilm nicht die gewünschte Freigabe "ohne Altersbeschränkung" erhalten konnte. Die Wucht, mit der die filmische Action akustisch präsentiert wird, entfaltet nach Auffassung der Ausschussmitglieder eine zu starke Beanspruchung von unter 6-Jährigen, von der sie sich auch während der ruhiger gestalteten Anschlussszenen nicht adäquat erholen können.

- Musik und Ton bestimmen über die Gefühlslagen der Zuschauer und fungieren als Wegbegleiter durch die Geschichte, bereiten das Kind auf Spannung vor, fordern es während des Höhepunktes und bieten ihm zum Ende des Films wieder Entlastung. Im Kontext der Kinderfreigaben ist es zwangsläufig nötig, dass die Filmgeschichte einen positiven Ausgang hat.

- Das Jugendschutzthema "Gewalt" erfährt seine Ausprägung über die Story, die Protagonisten und die filmische Umsetzung, sprich Visualisierung und Vertonung. Bezogen auf die Wirkungsintensität kann die dezent (realitätsnah) vertonte Gewalt stärker belasten und ängstigen als die übertrieben laut (fiktional) vertonte, da dies in der Überzeichnung nicht „unter die Haut geht“. Dieser Aspekt wurde während einer Filmveranstaltung in der FSK mit Detlev Bucks Jugenddrama „Knallhart“ (D 2005) mit 12 bis 15-jährigen Mädchen und Jungen aus Frankfurt bestätigt. Die Zurücknahme des Musikeinsatzes und die realitätsnahe (zurückhaltende) Vertonung der Gewalt, die dem Jungen Michael von Seiten der Gang zugefügt wird, zwingt den Zuschauer zur Anteilnahme und zum Mitgefühl mit dem Opfer. Mädchen wie Jungen beurteilten diese filmische Inszenierung von Erniedrigung, Demütigung und brutalster Gewalt in Bild und Ton als völlig übereinstimmend und erlebten sie deshalb unausweichlich stark und mitfühlend.

- Der Dialog spielt im Zuge der Kinderfreigaben eine zu beachtende Rolle. Dass die böse Königen in der Originalfassung des Films DIE CHRONIKEN VON NARNIA vor der großen Schlacht ausruft "Tötet sie alle! Macht keine Gefangenen!" hat u.a. dazu geführt, dass die Freigabe ab 6 Jahren abgelehnt wurde. Auch in den Verfahren der FSK spiegelt sich die Bedeutung von Sprache wider. Der Filmprüfung einer Originalfassung mit deutschsprachigen Untertiteln ohne Dialoglisten muss für die synchronisierte Fassung eine nochmalige Vorlage in einem Arbeitsausschuss folgen. Die Beurteilung der deutsch synchronisierten Filmfassungen nimmt insbesondere im Genre der Teenie-Komödien an Wichtigkeit zu.

- Im Zuge der Mediensozialisation lernen Kinder, wie sich im Gegensatz zu ihren Alltagserfahrungen bestimmte Vorgänge/Handlungen im Film anhören. Sie erkennen mit zunehmendem Alter und Medienwissen, die Vertonung und den Musikeinsatz zu deuten, zu interpretieren, wie z.B. "Mickey Mouse-Action", "Kevin allein zu Haus-Gewalt", "Bud Spencer-Schläge", "Harry Potter-Spannung" oder "Star Wars-Schlachten-Sound". Mit zunehmendem Alter nehmen Kinder filmisch präsentierte Vertonung und Musik im Kontext bestimmter Genres, wie Zeichentrick, Abenteuer, Märchen, Science Fiction, Action und Kriminalfilm wahr und vermögen entsprechende genretypische Inszenierungen zu beschreiben. Gerade das Science Fiction Genre hat durch den Soundeditor Ben Burtt und seine für die Star Wars Filme entworfenen Geräuschkompositionen eine Hörkonvention beim Zuschauer geschaffen, die Maßstäbe setzt für alle folgenden Genrefilme. Seine Geräusche für Raumschiffe und Laserwaffen sind zum Standard sämtlicher Science Fiction Produktionen geworden. Dieses filmische Wissen, das sich Kinder im Zuge ihrer Mediensozialisation aneignen und aufbauen, unterstützt den souveränen Umgang mit Filmen und fördert die Distanzierungsfähigkeit gegenüber Filmgeschichten und -figuren.

- Das Deuten, Erkennen und Zuordnen der unterschiedlichen Töne und Klänge von Gewaltinszenierungen zu bestimmten Genres schützt kleine Kinder jedoch nicht vor negativen Wirkungen, wie Übererregung und Ängstigung. - Kinder prägen sich schon früh Filmmusiken ein und erkennen sie bei Mehrteilern mit der entsprechenden affektiven Erwartung wieder. Sofort sind sie in die beim vorherigen Film empfundene Stimmung wieder eingetaucht. Verbinden sie mit einem Sound negative Gefühle, so erinnern sie diese und wenden sich vom Film eher ab. Die Leitmotive der STAR WARS-Filme und der HERR DER RINGE-Triologie werden von Kindern sofort erkannt und mit den jeweiligen Emotionen kommentiert.

- Musik und Vertonung schaffen die Atmosphäre und begleiten den kindlichen Zuschauer durch den Film. Sie bestimmen im Wesentlichen, ob das Kind in die Filmgeschichte einsteigt und bis zum Ende angebunden bleibt. Für die Kinderfreigaben "ohne Altersbeschränkung" und "frei ab 6 Jahren" ist es nötig, dass im dramaturgischen Verlauf Spannungsbögen regelmäßig in Entspannungsphasen münden. Ein durch die Musik transportierter Spannungsanstieg auf einen Höhepunkt hin (Action, Krimi, Thriller) kann von kleinen Kindern noch nicht verarbeitet werden, Übererregung und Ängstigung können die Folge sein.

- Je größer die affektive Übereinstimmung zwischen Musik/Ton und Bild ist, desto stärker ist die emotionale Reaktion der Kinder. Zu beobachten ist die Kongruenz zwischen Bild und Ton/Musik ganz klar bei der Sichtung des Films DER KLEINE EISBÄR, da sie dafür sorgt, dass kein Ausstieg aus der Geschichte passiert. Alle Kleinen bleiben aufmerksam und gebannt am Plot dran. Auch im Film BILLY ELLIOTT - I WILL DANCE verschmelzen Story, Filmfigur und Musik/Ton zu einem Ganzen, was sich beim kindlichen Zuschauer aufgrund der Wirkungsdichte im "affektiven Gedächtnis" einprägt und den Film und die Gefühle, die er ausgelöst hat, immer wieder erinnern lässt.

- Für Kinderfreigaben ist es unerlässlich, dass die Filmgeschichte einen guten Ausgang findet. Analog gilt dieser Anspruch auch in Bezug auf die Vertonung und die Musik. Eine Entlassung aus dem Film sollte für Kinder in einer spürbar positiven Atmosphäre geschehen, einem Sound, der aufgebaute Spannungen und Ängste solide abfedert. Dieser Aspekt führte wesentlich zur Herabsetzung der Altersfreigabe von 6 Jahren auf "ohne Altersbeschränkung" des Animationsfilms HIMMEL UND HUHN (USA 2004) im Appellationsverfahren der FSK. Werden im Filmverlauf schnelle Schnittfolgen effektvoll durch laute und bedrohliche Geräuschkulissen in ihrer beunruhigenden und bedrohlichen Wirkung unterstrichen, so garantiert die musikalische Gestaltung zum Ende des Films und nach aufregenden Sequenzen während des Films Spannungsabbau und Harmonie. Der fröhliche Soundtrack bricht durch lustige Songs turbulente Szenen, federt so erregende Filmpassagen ab und relativiert Spannung. Das Ende, der Abspann des Films steht musikalisch im Einklang mit der Message, dass Freundschaft zwischen Außerirdischen und Erdenbewohnern erstrebenswert und möglich ist. Ein fröhlicher, humorvoller und Mut machender musikalischer Ausklang unterstützt die Verarbeitung des Gesehenen und garantiert so eine kindgerechte Unterhaltung.

6. Ausblick
Um der gesetzlichen Vorgabe des Jugendmedienschutzes, dass Filme und vergleichbare Bildträger, „die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen“, nicht für ihre Altersstufe freigegeben werden dürfen, sachgerecht und nachvollziehbar zu entsprechen, bedarf es neben entwicklungspsychologischen und mediensoziologischen Erkenntnissen auch filmanalytischen Wissens. Musik und Ton gewinnen in ihrer Wirkkraft immer stärker an Bedeutung. Da im wissenschaftlichen Umfeld kaum auf Untersuchungen mit kleinen Kindern zurückgegriffen werden kann, kommen Filmprojekten, in denen auch das gemeinsame Filmerlebnis, sprich die Rezeptionssituation eine Rolle spielt, eine ganz besondere Aussagekraft zu. Der inhaltliche Austausch mit Mädchen und Jungen über Filme und ihre Wirkung bietet Einblicke in die Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeiten der Kinder. Das Projekt "Medienkompetenz und Jugendschutz I und II – Wie wirken Kinofilme auf Kinder?" gewährt uns diese so seltene und wünschenswerte Erfahrung und setzt die wesentlichen Impulse, die für den sich stets weiterentwickelnden Jugendschutz wegweisend sein sollten.

Von Birgit Goehlnich, 2006

(Hinweis: Den vollständigen Text inkl. der Quellenangaben entnehmen Sie bitte unserem PDF-Download)


 
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